Winckelmanns Reisen

Spielfilm, 1990, Venice Film Festival.

Eine Produktion der Novoskop Film zusammen mit Pandora Film und dem Westdeutschen Rundfunk.

Film still

Story

Wenn das Schuppenshampoo der Schweizer Firma Pohl zwischen Itzehoe und Glückstadt keinen reißenden Absatz findet, so ist die mangelnde Überzeugung des Vertreters Ernst Winckelmann daran nicht ganz unschuldig. Sieben Jahre nach seiner gescheiterten Ehe sind Winckelmanns Gedanken noch immer bei seiner Exfrau Hilde. Aber auch zu seiner jungen Freundin Aline, die vom Weggehen träumt, findet er kein realistisches Verhältnis. Erst das Auftauchen der fünfjährigen Rosa gibt Winckelmanns Reisen auf merkwürdige Weise die vermisste Perspektive.

WINCKELMANNS REISEN erzählt von immer knapp verfehlten Begegnungen, von Menschen, die stets im falschen Moment am falschen Ort sind, von der Komik der Missverständnisse und der späten Trauer über verpasste Gelegenheiten. Der Film birgt Momente klassischer Lakonie, wie das Schwarzweiß der Bilder aus einem unbewegten Land, wie der verhaltene Jazz, der die Wege und Umwege der Figuren ironisch kommentiert.

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Jan Schütte über WINCKELMANNS REISEN

Winckelmanns Reisen ist eine Geschichte von kleinen Leuten, Schicksalen, von denen häufig keine besondere Notiz genommen wird. Ausgehend von der Figur Winckelmann setzt sich der Film in einer ironisch-tragikomischen Art mit der heutigen gesellschaftlichen Realität auseinander. Eigentlich werden die Schwierigkeiten zwischen Geld und Liebe gezeigt. Wie vereinbart einer sein Privatleben und seine Arbeitssituation? Das sind die charakteristischen Erfolgsstrukturen der freien Marktwirtschaft, das Konkurrenzprinzip und seine Folgen. Nicht die übliche Geschichte des Erfolgreichen, der sein Privatleben verliert. Bei den kleinen Leuten schlägt sich das viel massiver durch, viel härter.

Das Schwarzweiß ist von der Landschaft inspiriert. Der Film spielt in Hamburg und Norddeutschland. Das ist karge Landschaft und es wurde die größtmögliche Form der Verdichtung gesucht. Ein auf das Minimale und Wesentliche reduziertes Kino. Ich wollte alles Überflüssige weglassen. Nichts sollte im Vordergrund sein, nicht die Ausstattung, nicht die Kamera, nicht die Musik, nicht die Schauspieler. Alles sollte für sich selber da sein, die größtmögliche Selbstverständlichkeit haben.

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Crew

  • Regie / Jan Schütte
  • Drehbuch / Thomas Strittmatter, Jan Schütte
  • Kamera / Sophie Maintigneux
  • Musik / Claus Bantzer
  • Schnitt / Renate Merck
  • Ausstattung & Kostüm / Katharina Wöppermann
  • Produktionsleitung / Eric Nellessen
  • Redaktion / Joachim von Mengershausen
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Cast

  • Ernst Winckelmann / Wolf-Dietrich Sprenger
  • Aline / Susanne Lothar
  • Vater / Traugott Buhre
  • Rosa / Mine-Marei Wiegandt
  • Berner / Mathias Gnädinger
  • Alter Vertreter / Fritz Lichtenhahn
  • Friseur / Jan Biczycki
  • Vertreter / Axel Milberg
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Kritik, Hans-Dieter Seidel, FAZ 1990

(…) Das ist ein ganz unspektakulärer, aus verhaltener Alltagsbeobachtung entwickelter Film, der die meisten bei der WOCHE DER KRITIK versammelten Arbeiten, Filme aus neun Ländern, in den Schatten stellte. »Was uns vorschwebt«, sagt Schütte und meint damit auch seinen Mitautor Thomas Strittmatter, »ist ein Kino, das auf die gigantische Gefühlssauce verzichten kann, ohne gleich vollkommen cool und gefühlskalt zu werden. Ein auf das Wesentliche und Minimale reduziertes Kino.« Dieser Wunsch geht größtenteils in Erfüllung.

Der Winckelmann, wie Wolf-Dietrich Sprenger ihn vorführt, nach außen hin stets ein Jota zu fesch in seiner versteckten Tristesse, mit einem etwas zu frechen Schnurrbart, etwas zu fettigen langen Haaren – dieser Vertretertyp ohne rechten Nachdruck, der für Schweizer Shampoo-Produkte auf ewig gleicher Tour durch Friseurläden und Drogerien zwischen Glückstadt und Itzehoe unterwegs ist, lebt am Leben vorbei, ohne daß er es richtig gewahr würde.

Er hängt einer verpfuschten Vergangenheit nach, seiner vor sieben Jahren in die Brüche gegangenen Ehe, und versäumt darüber die Gegenwart. Auch seine Freundin Aline, bei Susanne Lothar ein bleiches Blondgeschöpf mit hängenden Schultern und unergründlich traurigen Augen, ist nicht im Hier und Heute der väterlichen Eckkneipe zu Hause, sondern in einer zusammenphantasierten Zukunft, von der sie jedoch auch nur eine vage Vorstellung zu haben scheint. Für eine Stellung in Oostende, dem belgischen Seebad, lernt sie eifrig Holländisch. Ein Kind erst, die fünfjährige Tochter von Winckelmanns Exfrau, läßt mit der unbefangenen Neugier auf alles Lebendige diesen für Augenblicke aus seiner Erstarrung tauchen. Aber ob das auf Dauer sein kann? Schüttes Film spielt mit den Schattenrissen der Tüchtigkeit. Der geneigte Blick auf die Figuren wird durch Ironie gebrochen und damit jeder Sentimentalität enthoben. Schütte und Strittmatter spüren die absurde Komik in der Schwermut auf, mit der diese Leute zielsicher aneinander vorbeireden, wenn sie überhaupt Worte füreinander finden.

Dabei nimmt der Film seine Figuren so ernst, daß er sie niemals lächerlich machen kann. Er entlarvt die insgeheim gehüteten Sehnsüchte als Luftgespinste und sucht sie zugleich zu verstehen. Daß Schütte gelegentlich eine Erzählerstimme braucht, damit die Geschichte im Lot bleibt und nicht in Einzelbeobachtungen zerfällt, ist eine Schwäche des Films. Doch damit versöhnt sofort wieder die Kamera von Sophie Maintigneux, deren schwarzweiße Bilder den flachen Landstrich an der Westküste Schleswig-Holsteins wie einen Ort der Verlorenen aussehen lassen, bei dem die Zeit stillzustehen scheint auf alle Zeit.

Kritik, Harry Rowohlt, DIE ZEIT

Die Bulette wird geschleudert

Die norddeutsche Tiefebene: Vorn ist es genauso platt wie links und oben. Ein etwas abgewetzter weißer Mercedes hält an einer Tankstelle. Der Tankwart kommt aus seiner Kabause, macht sich bereit, einmal voll Super zu zapfen. Aus dem Auto tritt erst ein krokobestiefelter Fuß, dann der andere. Der Fahrer bleibt aber im Auto sitzen; er wechselt nur die Schuhe. Er zieht die Krokos aus, und, Entschuldigung, aber in der Schweiz heißt das so, und da unser Freund Vertreter einer Schweizer Firma für Haarpflegeartikel ist, muß der Ausdruck gestattet sein, er zieht sich Schnellfickerschuhe an. Dann fährt er weiter. Der Tankwart schimpft.

Wenn ich das Wort FRUST definieren sollte: Diese Szene aus WINCKELMANNS REISEN wäre es. Der Mann muß, um seinen ungeliebten Job machen zu können, in eine andere Haut schlüpfen. Der tolle Typ, der er eigentlich ist, der mit den vorne nadelspitz zugefeilten Ihr-mich-aber-schon-lange-Boots, der Typ ist nicht gefragt. Und auch ein Cadillac mit Haifischflossenheck ist nicht abgesagt, sondern, das glaubt mir doch zu Hause kein Mensch, ein Mercedes, eine Wander-Urne. Und der Tankwart ist auch sauer, aber sowieso. Wenn jemals Carl Weissners optimistischer Spruch über das Leben (»Man weiß nicht, wozu’s noch mal gut sein kann«) widerlegt wurde, dann in dieser Szene.

Nach dem sehr guten, sehr verhaltenen und von mir (DIE ZEIT 7/88) sehr verhalten gut gefundenen Film DRACHENFUTTER von Jan Schütte (Regie) und Thomas Strittmatter (Buch) erschien erst mal das extrem lesenswerte Buch RAABE BAIKAL von Thomas Strittmatter (Diogenes, 294 Seiten, 32 Mark), aber ein Buch ist ja leider noch kein Film.

(Folgt ein zierliches Divertissement über Literaturverfilmungen; mittendrin stelle ich fest, daß ich es schon einmal geschrieben habe, und melde mich mit puterrotem Kopf zurück.)

Und nun gibt es endlich wieder einen Film von Schütte/Strittmatter. Und wieder schön traurig. Traurig, weil eigentlich alles stimmt mit dem Personal des Films. Aber irgendwie haut es zeitlich nie so ganz hin.

Der Schuppenshampoo-Vertreter (Wolf-Dietrich Sprenger) ist eine ehrliche Haut und zu tiefen Gefühlen fähig. Er liebt seine Aline (Susanne Lothar), und seine Aline liebt ihn, aber er redet sich ein, sie sei zu keinen tiefen Gefühlen fähig, und trauert statt dessen seiner Geschiedenen nach, die ihn nie geliebt hat. Wenn er nur wüßte, daß er glücklich ist, dann wäre er sofort glücklich.

Seine Aline denkt sich: »Das kann doch nicht schon alles gewesen sein« und lernt, damit sie sich mal verändern kann, Niederländisch.

Was für ein Liebespaar: Susanne Lothar und Wolf-Dietrich Sprenger. Die beiden wünsche ich mir auch noch mal zusammen.

Und Alines Vater (Traugott Buhre), der Kneipenwirt in Barmbek, trauert seiner vor acht Jahren verstorbenen Frau nach und wäre außerdem lieber in Florida, wo er glaubt, mal glücklich gewesen zu sein. So sind wir.

Und diese Dialoge in ihrer epischen Wucht: »Die Bulette wird nicht gerollt, die Bulette wird geschleudert … Ohne Auslandserfahrung kannst du das gar nicht verstehen.« Da stimmt alles, da sitzt jeder Ton.

Auch die Nebenrollen sind verschwenderisch gut besetzt. Hans Eppendorfer brilliert als Kneipenschläfer, und mein Freund Dr. Bodo Abel spielt einen Verkaufspsychologen, der auf den Fußballen wippt und bedenklich blickt. Meisterhaft.

Ein kleines Mädchen (Mine-Marei Wiegandt mit dt) erscheint, auf das aufgepaßt werden muß, und bringt Wirbel in die Geschichte. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, an dem sich noch alles zum Guten wenden könnte, aber zum richtigen Zeitpunkt ist alles, wie immer, viel zu spät.

Claus Bantzers Musik untermalt die traurige Geschichte. Seit Jahren frage ich mich, was Jazz eigentlich noch soll. Jetzt weiß ich es wieder. Er soll traurige Geschichten untermalen.